Norman Schultz: Was ist Kunst?
Alfred Eisleben: Gegenfrage: Ist Kunst Kunst?
Norman Schultz: Womöglich ist die Frage falsch gestellt und sie wollen darauf verweisen das Kunst kein Ding unter Dingen ist?
Alfred Eisleben: Vielleicht ist es das nicht. Ist Kunst daher ein Strom, etwas Wandelndes, etwas Elektrifizierendes, eine Euphorie, die im Medium des Fleisches und Datenpaketen die Welt umspannt? Ein Schleier, der Wirklichkeiten umhüllt? Ist Kunst ein Formwandler, etwas, das von Körper zu Körper springt, ein Virus, der sich Leben in Körpern sucht, etwas, das nutzlos für uns ist, so nutzlos wie das Sternfeuer oder so nutzlos wie Existenz, nämlich etwas, das einfach nur ist? Ist Kunst vielleicht einfach nur ein Potenzial in den Dingen, das zur reinen Aktualität verführt? Nichts anderes an den Dingen zeigt als ihr Sein? Ich meine, nacktes Sein ohne alle Zusätze, ein Fenster aus dem Universum heraus, in ein anderes weniger effizientes Sein? Ein Fenster aus dem Universum der Dinge heraus, in bloßes, reines Sein?
Norman Schultz: Sie schreiben, dass Kunst über die Materialien hinausgehe, dass es nicht direkte Eigenschaft des Materie ist. Das würde sich decken mit Ihrer Andeutung, dass Kunst nur Sein ist.
Alfred Eisleben: Nein, so konkret würde ich das nicht behaupten. Für mich ist der Streit der Autoritäten auf diesem Gebiet nicht so eindeutig geklärt. Sie wissen, der Streit zwischen diesen Berghallenkönigen, Aristoteles und Platon.
Norman Schultz: Ich kann mir denken, was Sie meinen, aber bitte führen Sie aus.
Alfred Eisleben: Ach, es ist einfach die Frage, wie wir eine Befreiung von den Materialzwängen erreichen. Damit meine ich, ob ein Gedanke ohne Material möglich ist, ob so etwas wie reines Sein sein kann. Für Platon waren die Dinge zum Beispiel immer noch ein zweites mal als Dinge-an-sich gegeben. In diesem Sinne sahen wir die Dinge immer durch den Seinsverstärker des Ideals. Der Mensch war nur eine schlechte Kopie vom Menschen-an-sich so wie jedes Ding irgendwie immer nur eine schlechte Kopie war von dem, was da an-sich war. Da war es schon schwer positiv zu bleiben und an regnerischen Tagen im Diesseits musste der Königsphilosoph vom Reich der Seelen träumen. Er träumte von einem wahren, ewigen Jenseits, wo wir noch wirklichen Hunden, wirklichen Menschen, wirklicher Kunst begegnen würden.
Norman Schultz: Aus diesem Grunde nennen wir ja Platon auch einen Idealisten. Er meinte, dass anders Erkenntnis nicht zu erklären wäre.
Alfred Eisleben: Richtig, für Aristoteles aber stand bei dieser Weltentheorie zuviel über. Eine Verdoppelung der Welt im Ideal konnte er nicht akzeptieren, da wir nicht erklären konnten, wie denn die realen Dinge, in diesen Dingen an sich partizipieren. Die Dinge waren nicht Teilhaber an etwas besserem. Er meinte daher, dass wir viel eher die Formen von den Dingen abschürfen. Diese Dinge sind irgendwie ein Amalgam aus Material und Form. Unsere Perspektive aber würde sie nach verschiedenen Gründen sortieren. Einmal würden wir die Dinge als Materie sehen, dann wieder als Form. Für Aristoteles war aber im Material immer schon etwas Geistiges enthalten, so wie im Geistigen immer etwas Materie. Beides waren nur Weisen wie vom Sein in mannigfaltiger Bedeutung sprachen. Wir erstellen sozusagen billige Kopien von den wirklichen Dingen, wobei etwas von den Dingen in unseren Kopien enthalten ist, andernfalls wäre es ja keine Kopie.
Norman Schultz: Das heißt also für Plato war die Welt schlicht, während über ihr das Reich der wirklichen Wirklichkeit thronte.
Alfred Eisleben: Ja, für Platon war unsere Welt immer nur eine plumpe Version von dem, was wir erreichen können, während Aristoteles uns eher als Formenabstrahierer sah. Das heißt wir haben die Formen irgendwie aus den Dingen herausgesaugt. Aber das Thema ist natürlich komplizierter. Auch meine Zwei-Welten-Interpretation von Platon ist schief. Die Frage jedoch bleibt, woher kommt die Kunst? Aus dem Ding wie bei Aristoteles oder aus einem, inneren Genie, das wir innerlich spüren und das schon immer Kontakt zum Besseren, zum inneren Licht hatte?
Norman Schultz: Mit Aristoteles könnten wir sagen, dass sich die Kunst in ihrer heutigen Profession nur entwickeln konnte, weil nach und nach die Materialien günstiger wurden. In diesem Sinne hätten wir die Kunst vom Material abgewonnen.
Alfred Eisleben: Ja, das ist eine simple These im Hinblick auf die Entwicklung der Kunst. Halten wir jedoch zunächst fest: Kunst erlaubt sich weniger Materialschlachten als Kriege, ist aber dennoch eine eigenartige Maschine, die Materialien bedarf. Nur schauen Sie! Es ist nicht so, dass Kunst allein vom Material profitiert. Es geht bei Kunst wenig um Profit, auch weil die Kunst nur gering auf Gesellschaften einwirkt und wenn dann in so langen Zeitzyklen, so dass schließlich eine Kosten-Nutzen-Kalkulation abwegig ist. Niemand investiert in Kunst, weil sie Kriege gewinnt. Kunst hat keine konkreten Effekte. Niemand veröffentlicht sein Gemälde und die Gesellschaft erfährt einen grundsätzlichen Wandel. Weil Kunst also so minimal in ihrem konkreten Nutzen war, verblieb sie oftmals ein Nebenprodukt von Gesellschaften, die Überschüsse zuließen. Dann aber können wir davon sprechen, dass Kunst Material zur Verfügung gestellt wurde, das anders nicht benötigt wurde. Dass ein Fortschreiten in der Materialialgewinnung ein Fortschreiten in der Kunst bedeutete, tritt also womöglich nur korrelativ auf, ist aber nicht kausal. Ich könnte also ebenso durch die Überschussproduktion Kunst erklären. Plötzlich waren da diese Energien.
Norman Schultz: Welche Überschussenergien sind das also für Kunst?
Alfred Eisleben: Kunst ragt aus Gesellschaften über die Zeit hinaus. Das Tierreich der Vergangenheit hinterließ uns wenig. Ihre Knochen kommunizieren mit uns nur sehr beschränkt und wir sind eher beeindruckt von dem Formenreichtum der Geschöpfe und bauen ein paar Evolutionstheorien daraus. Von den Pflanzen verheizen wir die Reste pragmatisch. Kunst aber erzählt uns von einer höheren Geschichte in uns. Die Vergangenheit redet hier mit uns in der Sprache der Ewigkeit. Wobei wir hier nicht profitieren, sondern gar investieren, um diese Geschichte als Sinnbild der Menschheit zu erhalten. Es geht um eine Menschheit, die sich sich Überfluss erlaubt, weil sie nur darin Ewigkeit an sich entdeckt. Dieser Überschuss wird daher nicht in die Atmosphäre verprasst, sondern als Andenken erhalten. Die primäre Überschussenergie ist dabei Zeit. Wir haben Zeit, weil wir glauben, dass die wesentlichen Gefahren gebannt sind. Stellen wir uns auf Kunst ein, so steht die Welt still und ist einfach nur Welt.
Norman Schultz: Okay, aber warum wollen wir in unserer verbleibenden Zeit dann diese Vergangenheit erhalten, warum wollen wir in der Kunst sein?
Alfred Eisleben: Weil sie die Welt aus ihrem nackten Dasein in die Geschichtlichkeit des Menschen emporhebt. Damit meine ich nicht, die geschichtliche Entwicklung, sondern das Sein im Moment, der zur Ewigkeit wird, also keinen körperlicher Akt, der bald schon in Erinnerung verblasst. Wir hoffen an der Ewigkeit teilzuhaben. Diese Kunst aber ebenso wie Ethik kostet. Die gibt es nicht zum Nulltarif und beide, Ethik und Kunst, sind in diesem Sinne nicht profitabel. Aus diesem Grund wirkt Kunst ebenso bedrohlich für streng gezügelte Systeme. Kunst konkuriert mit instrumentalisierten, angeblichen Ewigkeitssprachen. Die Kunst, die sich aus Kausalzwängen des Nutzen befreit steht für Freiheit und diese Freiheit geht nicht überein mit dem Korsett der Fundamentalisten, die Macht akkumulieren wollen. Fundamentalisten missbrauchen das Transzendente. Sie verpacken das Leben lieber in seinen biologischen Funktionen angereichert mit ein wenig religiöser Praxis und sie akzeptieren keine Sphäre, die über die eigenen Horizonte hinausgehen könnte. So wie es neben ihrem Gott keine Götter geben darf, so darf es ebenso keine anderen Kulturen neben der Kultur geben.
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Zum zweiten Teil des Gesprächs geht es hier.
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