Schulden waren für mich immer schon eine merkwürdige Hinterlassenschaft vergangener Generationen. Schulden stellten für mich ein deutsches Erbe dar, das irgendwie zu meiner angestammten Nationalität gehörte, die ich ohnehin nie verstand, nur dass ich eine irgendwie diffuse Verantwortung für eine Vergangenheit übertragen bekommen hatte. Ich bin mir gänzlich unsicher, ob ich jemals hiervon in irgendeiner Weise etwas verstanden habe, Schuld aber assozierte immer den Gedanken an Strafe. Gänzlich metaphysische Konzepte wie ich heute aus einer philosophisch elaborierten Perspektive wohlgebildet bekennen würde. Aber auch das Geld, was ich täglich verwendete, war einerseits so nah, auf der anderen Seite etwas abstraktes, was ich in dieser Art nie verstand. Wie konnten derartig große Kapitalströme existieren und wo kamen sie zu dieser grauen Masse gebündelt, wo war der Gegenwert, der sich nicht direkt aus Tausch ergab?
Mit einer neueren Geschichte der Schuld begeistert nun David Graeber die Massen. Die Architektur der bis hierhin aufgebauten Schuldentürme analysiert er in seinem Buch „Schulden – die ersten 5000 Jahre“. Genauer untersucht er das ethnologischen Fundament unserer Erblast. Feinfühlig für das zwischenmenschliche Geben und Nehmen will er erläutern, wie wir in ein Schuldsystem driften konnten, das schließlich 1971 mit der Entbindung des Goldstandards in den USA einen undefinierten Abgrund zurückließ. In diesen Abgrund stürzen wir nun schon seit über 40 Jahren hinab. Schulden heute sind unpersönliche, moralische Last einer falschen Gesellschaft.
Die Ethnologie ist seit jeher belebt von der konstruktivistischen Frage, inwiefern wir unsere Welt durch verschiedene, modische Brillen des Geschichtenzählens verstehen. In diesem Sinne scheint es so, dass vor allem die wenig historisch-empirischen Wissenschaften vor allem Modelle konstruieren, die sie dann auch in dieser Weise kennen können. Eine Geschichte, die ich selbst erfunden habe, kenne ich schließlich am besten. Dies gelte nach Graeber in besonderen Maße für die gegenwärtigen Ökonomiemodelle. Umgekehrt aber soll die Ethnologie Evidenzen für eine andere Erzählung liefern. Nicht etwa der Tauschhandel und dann das Geld waren Grundlage der Schulden, nach Graebers Recherchen waren die Schulden bereits vor der Erfindung des Geldes und noch vor der Erfindung des Tausches in Form von Nachbarschaftshilfe gegeben. Genau genommen hätte damals nämlich niemand 20 Hühner für eine Kuh getauscht. Vor 500 Jahren wäre dies ein erstaunlicher Gedanke gewesen, ständig irgendwelche Güter in Dörfern zu tauschen. Schulden in der klassischen Form stärkten vor allem das Miteinander durch die Ausgabe von Gütern, nicht aber den Tausch. Gegenleistung war einzig die Stärkung des Vertrauens in die gute Gesellschaft. Für Graeber waren Schulden zunächst also ein soziales Verhalten, dass auch in der Form bestand Versprechen des Miteinanders zu etablieren. Am Anfang war die Schuld, doch diese zielte nicht auf die hochmoralisierte Last des Einzelnen, sondern war ein soziales Versprechen auf eine faire Gemeinschaft.
Bei einer Lesung in Köln versuchte David Graeber nun diese Gedanken zu erläutern. Der Erfinder des neueren Protestmarsches in New York, der angebliche Chefredakteur der Occupy-Bewegung, dessen größter Verdienst [nach fortwährender Betonung der Medien] darin bestand, den Wahlspruch „We are the 99%“ erfunden zu haben, dieser Zeitgeisterfinder stieß auf erhebliche Probleme, seine Geschichte zu erzählen.
Da David Graeber schließlich ein Amerikaner ist, unterhielt sich der „Moderator“ mit ihm auf Englisch und fasste seine Sätze doch deutlich gefärbt auf Deutsch zusammen. Größere Sinnzusammenhänge wurden dabei verfälscht. Nach Protesten aus dem Publikum erklärte sich bald jemand bereit, Simultanübersetzung zu leisten, was in diesem Sinne respektabel war, aber dann überhaupt die Konzentration nahm. Der ständige Switch zwischen Englisch und Deutsch und der leicht überforderte, weil spontan gecastete Simultanübersetzer passten nicht und so waren die zentralen Stellen mehr als unverständlich. Viel verstand ich also nicht mehr.
An diesem Kölner Abend fiel mir daher etwas anderes auf. Wir erzählen Geschichten in der Art, dass wir in uns die Worte hineinübersetzen und eine möglichst lückenlose Geschichte nach außen wieder geben, dennoch ist das Geschichtenerzählen immer ein öffentliches Stille Post spielen. Auch Graeber ist daher ein Geschichtenerzähler. Er lieferte zwar eine interessante Interpretation der Schuldenproblematik, die radikale Forderung aber, Schulden zu erlassen, entsprang aus der historischen Prämisse, die er zuvor erzählt hatte. Schuldenerlass hätten sich schließlich auch schon andere Systeme gegönnt. Zu den etwaigen Gefährdungslagen einer umfassenden Geldentwertung, die einem Schuldenerlass gleich käme, äußerte er sich nicht, auch nicht zu dem Risiko durch radikale Schnitte Unruhen zu verursachen.
Es ist schon schwer für mich, die altmodisch konservative Auffassung hervorzukramen: Nach Graebers Auffassung hätten Aristoteles und Platon heutige Menschen als Sklaven oder Leibeigene an den Ketten der Schuld gesehen, umgekehrt aber erkannten Philosophen wie Gehlen an dieser Stelle auch: „Womöglich haben wir mehr zu verlieren als nur unsere Ketten.“ Ein revolutionärer Schuldenschnitt ist im gewissen Sinne leider auch eine brutale Revolution. Im Grunde hat die Weltgeschichte eine 200 jährige französische Revolution in ihren Köpfen und an den Leibern der zu revolutionierenden Völkern hinter sich. Vielleicht hatten wir in gewisser Hinsicht eine 20 Jahre währende Atempause. Könnte daher Graebers Gedanke der einer Revolution sein? Zumindest ist seine Geschichte vereinheitlichendund verspricht uns eine bessere Form der Ökonomie (irgendwie!).
Nun sehe ich mich nicht als konservativ, aber mir leuchtet beispielsweise nicht ein, warum sich gegenwärtige Geldpolitik als Ergebnis einer historischen Entwicklung vollständig zeigen sollte und so etwa historische Beispiele des Schuldenerlasses auch für uns Gültigkeit hätten. Es könnte doch sein, dass unser Geldsystem zu Teilen auch emergent für sich selbst existiert, das heißt einfach so entstanden ist. Der Kontakt zum Historischen gibt uns meines Erachtens nicht genügend Hinweise auf die Verhältnisse eines neuen, gegenwärtigen Ereignisses wie unserer Schuldenkrise. Schuld könnte meines Erachtens ontologisch different sein (das heißt einer anderen Seinsklasse zugehören) zu den Prozessen, wie Schuld entstand. Und damit würde auch Graebers Argumentation geschwächt sein. Machen wir dies an einem Beispiel deutlich.
Im Jahre 2011 zahlte Deutschland schließlich seine Schulden aus dem Jahre 1920 ab. Aufgrund der alleinigen Kriegsschuld hatte Deutschland verschiedene Verpflichtungen übernommen. Die moderaten Zahlungsmodalitäten führten zu historisch durchwachsenem Zahlungsverhalten, so gerieten Dawes- und Young-Anteilscheine für eine bestimmte Zeit zu Sammlerobjekten, deren eigentlicher Wert schon als abgeschrieben galt. Mit einer in den 80er Jahren unvorstellbaren Wiedervereinigung sollten diese nämlich erst zurück gezahlt werden und waren daher so gut wie wertlos. Schuld wurde hier historisch in eine Ruhestarre versetzt und niemand interessierte sich für diese Schulden und eigentlich hätten sie auch verschwinden können. Doch Hans im Glück hielt mehr in Händen als ein bloßes Sammlerobjekt. Mit der Wiedervereinigung waren die Scheine plötzlich millionenschwer und mit Beginn der Tilgung der Kredite nach der Wiedervereinigung kam noch eine zusätzliche vertragliche Schuld hinzu. Die deutsche Regierung hätte anfang der 90er dank Inflation den Kredit auf einen Schlag abbezahlen können, setzte allerdings stattdessen eine 20 Jahre vertraglich vereinbarte Tilgung in Gang, was die Schulden durch den Zinseszins in dieser Zeit nahezu verdoppelte. Noch bemerkenswerter ist aber der Sachverhalt, dass etwa nur 90 Prozent der Anteile abbezahlt werden, da die übrigen Anteilsscheine an Ahnungslose verloren gegangen waren. (Quelle: http://www.welt.de/wirtschaft/article5517944/Deutschland-zahlt-noch-immer-fuer-Ersten-Weltkrieg.html)
Diese Geschichte zeigt uns, dass wir Schulden über lange historische Zeiträume verfolgen wollen, wir aber vor allem eine Art lineare Geschichte dazu erzählen müssen unter welchen Bedingungen Schulden zurückgezahlt werden müssen. Die Geschichten können aber von verschiedenen Brüchen durchwachsen sein und letztlich zahlen wir Schulden zurück, die aufgrund von Zinseszinsen niemals mehr dem realen Wert des Schuldenbeginns entsprechen. Können wir so zum Beispiel unsere Schuldenberge noch identifizieren? Wir behaupten ja alle Schuld basiere auf Bilanzen, die ausbalanciert nirgends verpuffen. Gerade aber wenn Schulden hin und her wachsen und an Vereinbarungen gebunden sind, dann sind sie auch verschieden zu ihrer historischen Werdung, sondern immer auch eine moralische Frage der Gegenwart. Bei Milliarden Transaktionen erscheint dies so, dass Schulden jeden Tag von Millionen Anlegern neu taxiert werden. Schulden sind damit nicht nur Produkt einer Vergangenheit, sondern unterliegen den Tauschinteressen gegenwärtiger Anleger. Was aber erwarten diese? Vertrauen in ein System, dass nicht ohne weiteres mit der begonnenen Geschichte bricht. Was ist mit gewissen Dominoeffekten vor den Politiker im Moment Angst haben?
Wir reden also einerseits von einer historischen Bindung an Versprechen, andererseits von dem Status dieser Versprechen heute. Graeber erscheint mir im Gegensatz eine doch lineare und einheitliche Geschichte erzählen zu wollen, die die radikale Lösung des Schuldenerlasses pauschalisiert. Vorstellen kann ich mir den Schuldenerlass auch, aber dafür brauche ich keine Historie, sondern ich muss schlicht die moralische Frage der Gerechtigkeit bemühen. Natürlich räumte Graeber später ein, dass bestimme Schulden bestehen bleiben müssten, so zum Beispiel die Renten und da zeigt sich das Problem, Graeber hat seinen Lösungsvorschlag schlichtweg nur historisch bedacht, aber nicht ökonomisch-gegenwärtig nach moralischen Prinzipien gewichtet. Wir haben es nicht mit Gesamtschuldenbergen zu tun, die nach einer historischen Erzählung begründet wären, sondern mit einer bisher indifferenten Masse, die in jedem Einzelfall auf Gerechtigkeit einer Geschichte geprüft werden muss. Die Frage der Gerechtigkeit muss schlicht gestellt werden: Welche Schulden können wir gerechtfertigt erlassen. Etwa die Schulden der unverantwortlichen 18-Jährigen, die sich einen Handyvertrag nach dem nächsten geholt hatte oder die Schulden der Hausbesitzer, die aufgrund von unklaren Spekulationen übers Ohr hauen lassen haben. Dies ist plakativ, aber Schulden der Einzelnen sind nicht ohne weiteres mit den Schulden der Gesellschaft zu vergleichen (die ich zugebener Maßen ohenhin nicht verstehe). Ist es nicht auch verwunderlich, dass gerade ein Amerikaner Schuldenerlass fordert? Mit jährlich 600 Milliarden haben sie sich zur Weltmacht aufgespielt und damit Gelder an anderer Stelle entzogen, wo diese dringend benötigt worden wären. Wäre es gerecht, wenn diese Staaten nun ihre Schulden verlieren?
Genau habe ich Graebers Argument daher nicht verstanden, was wohl auch an den unmöglichen Umständen lag, aber seine Erzählung von der Schuld war zumindest ein informativer und anregender Abend.
Norman Schultz